Bilder aus dem Moment heraus

Bilder aus dem Moment heraus

Rostock-Lichtenhagen; 08.1992; Bei den tagelangen massivsten ausländerfeindlichen Ausschreitungen konzentrierte sich nach der Verlegung der Asylbewerber in sichere Unterkünfte die Gewalt auf die Polizei und das benachbarte Wohnhaus. Antifa-Demonstration gegen die ausländerfeindlichen Ausschreitungen, hier: Zuschauer gegenüber dem Sonnenblumenhaus. Alle Abbildungen: Deutsche Fotothek, Archiv der Fotografen

Der Fotograf Martin Langer ist tot. Geboren 1956 in Göttingen, absolvierte er nach Schule und Wehrdienst zunächst eine Lehre zum Radio- und Fernsehtechniker, bevor er visuelle Kommunikation mit dem Schwerpunkt Bildjournalismus an der FH Bielefeld studierte. Schon während der Hochschulzeit entdeckte er den Themenbereich der Fotosatire; Komisches und Denkwürdiges aus Situationen herauszufiltern, gehörte zu einer seiner grundlegendsten Eigenschaften als Fotograf. So ging aus der humorvoll-zugewandten Beschäftigung mit seiner Studienregion die Serie „Das Land des Lächelns“ hervor, in der er den Alltag in Ostwestfalen Anfang der 1980er-Jahre aufs Korn nahm.

Ein britischer Artillerie-Panzer fährt durch ein niedersächsisches Dorf. NATO-Herbstmanöver in der Norddeutschen Tiefebene. Hildesheim, 19.-22.09.1984

Seit 1984 arbeitete Langer, der mit seinen Bildern immer Stellung bezog, als Fotograf auch an politischen und sozialen Themen für Zeitschriften, Verlage und Organisationen wie Robin Wood und Greenpeace. Besondere Aufmerksamkeit erzielte seine Fotodokumentation über die Einnahme der Öl-Plattform Brent Spar durch die Umweltorganisation Greenpeace. Dafür erhielt er 1995 den Fuji Euro Press Photo Award.

“Land des Lächelns“. (Ost-) Westfalen in den 80ern. Fotografierter deutscher Alltag. Sparkassen-Mitarbeiter am Arbeitsplatz. 1984.

Zu seinen bekanntesten sozial-dokumentarischen Reportagen zählt die im Auftrag des Spiegel fotografierte Schwarzweiß-Serie über die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Zum Sinnbild des „hässlichen Deutschen“ wurde die Aufnahme eines mit dem Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft gekleideten Mannes in einer vermutlich urinbefleckten Jogginghose, der die rechte Hand zum Hitlergruß erhob. Es wurde vielfach veröffentlicht und befindet sich in Sammlungen von u. a. dem Haus der Geschichte in Bonn und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin.

Weliki Nowgorod, Russland, 03.1992. Städtisches Waisenhaus, hier Kinder im Computer-Zimmer.

Martin Langer war ein kritischer und empathischer Beobachter des bundesrepublikanischen Alltags insbesondere der 1980er Jahre. „Da ist nichts nachgestellt, nichts inszeniert, jedes Bild entstand aus dem Moment heraus. Da läuft etwas ab im richtigen Leben und du grätschst rein, reißt die Leute aus ihrem Trott heraus“, hat er selbst seine Arbeitsweise beschrieben. Seine Themen, darunter die Situation der sogenannten Gastarbeiter:innen, von Spätaussiedler:innen oder Strukturen der Arbeitswelt, verfolgte er über längere Zeiträume, um sie dann in Serien zusammenzustellen.

“Land des Lächelns“. (Ost-) Westfalen in den 80ern. Fotografierter deutscher Alltag.

In der Retrospektive verdichten sich Martin Langers Bilder zu einer Chronik zentraler gesellschaftspolitischer Themen, ohne dass er diesen Anspruch je selbst mit ihnen verbunden hätte. Fotografie war für Martin Langer vor allem ein Kommunikationsmittel. Mit seinen regelmäßigen Posts in sozialen Netzwerken bewegte er sich am Puls der Zeit und nutzte das Internet als Forum für aktuelle fotografische Kommentare zu Alltag und Gesellschaft.

Die Deutsche Fotothek hat seit 2020 rund 2.500 Digitalisate von Martin Langers Fotografien in ihrem Bestand, die einen Überblick über seine zentralen Arbeiten geben. Sie werden im »Archiv der Fotografen« präsentiert. Der Pflege seines fotografischen Erbes fühlt sich die Fotothek auch zukünftig verpflichtet.

Ab 24. März 2022 sind Fotografien von Martin Langer in der großen Ausstellung des LVR-Landesmuseum Bonn zur Fotografie der 1980er Jahre zu sehen, »Deutschland um 1980. Fotografien aus einem fernen Land«.

Deutsch-polnische Grenze, 1992. Bushaltestelle an einer Landstraße bei Gottesgabe, Kreis Seelow.

Der Text ist erstmals am 4.3.2022 im SLUBlog erschienen.

Agnes Matthias

Agnes Matthias studierte Kunstwissenschaft, Kunstgeschichte und Empirische Kulturwissenschaft in Karlsruhe und Tübingen. 2003 promovierte sie mit einer Untersuchung zum Krieg in der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie an der Universität Tübingen. Nach Tätigkeiten als freie Kunsthistorikerin mit den Arbeitsschwerpunkten Fotografie und Grafik des 19. bis 21. Jahrhunderts u. a. für das Museum Folkwang Essen und das Kupferstich-Kabinett Dresden übernahm sie 2011 die Leitung der Grafischen Sammlung am Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg. 2014 bis 2016 war sie Kuratorin für Fotografie an den Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen (SES) im Verbund der SKD und Leiterin des Digitalisierungs- und Erschließungsprojekts der dortigen Fotobestände. Von 2019 bis 2021 war sie Kuratorin für Forschung und wissenschaftliche Kooperation an den SKD. Heute ist sie als Kuratorin an der Deutschen Fotothek beschäftigt.