Ein Augenmensch

Ein Augenmensch

Eine letzte Veröffentlichung fasste sie nochmals zusammen, die Themen der Evelyn Richter: Ihre Fotografien zeigen Menschen unterwegs, allein, nachsinnend verloren, wie träumend. Die Bilder in Zügen, in Straßenbahnen, U-Bahnen, technischen Gehäusen, die von einem Ort zu anderen bewegt werden. Ein anderes, das vielleicht wichtigste Thema, kam auch zum Vorschein: Museumsbesucher, Menschen beim Betrachten von Kunst, konzentriert, nachdenklich, in einem besonderen Zustand des Bewusstseins. Evelyn Richter bevorzugte das unauffällige Fotografieren aus dem Moment heraus, im Geschehen selbst. Es sind Schwarzweiß-Bilder mit zumeist harten Kontrasten, von einem schwarzen Rahmen eingefasst, kleine grafische Etüden mit ausponderierten Elementen. Die Orte wechseln, London ist dabei, New York, Venedig, aber auch sehr ausführlich Moskau sowie Rumänien. Evelyn Richters Schüler und Freund Werner Lieberknecht hatte annähernd 70 Kleinbildfilme, die 2013 im Archiv der Künstlerin aufgefunden worden waren, entwickelt, und mit ihr zusammen eine Auswahl von Bildern getroffen, die 2018 in dem Band „Von der Latenz der Bilder“ abgedruckt wurden. Da lebte Evelyn Richter bereits seit Jahren in einem Pflegeheim, nahezu völlig ans Bett gebunden, nachdem ein Schlaganfall sie gesundheitlich hart getroffen hatte. Dort ist sie am vergangenen Sonntag, dem 10. Oktober 2021, im Alter von 91 Jahren verstorben.

London, National Gallery, 2007 (Quelle: Werner Lieberknecht)

Sie gilt als große Vertreterin der künstlerisch intendierten Fotografie im Osten Deutschlands, die zumeist mit dem Label „sozial-dokumentarisch“ versehen wird. Tatsächlich kann ihr Impetus so verstanden werden, doch greift diese Zuordnung zu kurz. Evelyn Richter lebte ganz und gar mit und für die Kunst, sie interessierte sich leidenschaftlich für menschliche Schicksale, besonders zudem für die Situation der Frauen. Letzteres basierend auf den Erfahrungen einer Fotografin, die jahrzehntelang freiberuflich gearbeitet hatte, bis spät, im Jahr 1980, die Berufung zur Dozentin für Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst ihr das soziale Überleben erleichterte. Dort konnte sie ihre langjährigen Erfahrungen vermitteln, ihre künstlerische Positionierung weitertragen. Dies tat sie auch in der Rede prägnant, intellektuell, kritisch, aber auch verständnisvoll, duldsam, mit besonderem Blick für die Situation insbesondere der Studentinnen.

Dies mochte mit ihren eigenen Anfängen zusammenhängen: Die 1930 geborene Tochter einer großbürgerlichen Familie aus Neukirch/ Sachsen hatte sich sehr früh für die Künste entschieden und schließlich spontan die Fotografie als Fach gewählt. 1948 trat sie eine Lehre in der privaten Schule von Pan Walther in Dresden an und wurde dort noch in der Tradition der Kunstfotografie um 1900 unterrichtet. Nachdem Walther in den Westen Deutschlands gewechselt war, arbeitete sie als Laborantin und Fotografin an der TU Dresden, bis sie, aufgrund kurzzeitig gelockerter politischer Vorgaben, 1953 ein Studium der künstlerischen Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig beginnen konnte. Die junge Frau strebte, nach eigenen Worten, Horizonterweiterung und geistige Entwicklung an, doch kollidierten ihre idealen Ansprüche hart mit den restriktiven, politisch motivierten Vorgaben an der Kunsthochschule. Die Exmatrikulation war die Folge. 1956 – 57 wirkte sie in der Künstlergruppe „action fotografie“ mit, deren weiteres Bestehen nach anfänglichen Erfolgen durch politisch motivierte Behinderungen unterbunden wurde. 

Evelyn Richter stand vor der Wahl: In den Westen zu gehen, wie es viele Gefährten taten oder sich für die Existenz einer freiberuflichen Künstlerin unter den Lebensbedingungen in der DDR zu entscheiden. Sie blieb schließlich bewusst im Osten Deutschlands, gebunden an ihre familiäre und kulturelle Herkunft. Und auch eingedenk des Umstandes, dass sie, wie sie 1992 in einem Interview einräumte „unbegabt zum Existieren“ war, ihr das Gewinndenken und der äußere Glanz des Westens zutiefst fremd blieben. Evelyn Richter arbeitete jahrzehntelang und auch physisch hart zwecks Broterwerb als Werbefotografin und Bildredakteurin für Messen sowie als Ausstellungsgestalterin. Gleichzeitig begann sie mit der Arbeit an psychologischen Porträts zur Lebens- und Arbeitsweise von Frauen und Milieustudien in Produktionsbetrieben. Sie betrieb langjährige Studien zu Musiker-, Dirigenten- und Komponistenporträts. Bereits 1957 hatte es eine Art Initiationserlebnis gegeben: Während einer durch einen Fotowettbewerb ermöglichten Reise nach Moskau hatte sie, auch technische Zufälle bedingt, zu der ihr eigenen Fotografierweise gefunden. Evelyn Richter arbeitete mit der unauffälligen Kleinbildkamera, die sie ständig mit sich führte und die ihr ein intuitives, erlebnisbetontes Agieren ermöglichte. Anregung und Bestätigung bot das Werk des Franzosen Henri Cartier-Bresson, dessen ästhetisches Credo vom „entscheidenden Moment“ des Fotografischen, dem „moment décisif“ auch das ihre wurde.

Igor Oistrach bei der Probe zu Felix Mendelssohn-Bartholdys Violinkonzert e-Moll op. 64 (mit Berliner Sinfonieorchester unter Leitung von David Oistrach), Eröffnungskonzert der XVI. Berliner Festtage, 1972. Quelle: Deutsche Fotothek

Evelyn Richter gab im Laufe der Jahre 3 fotografische Bücher heraus, die als wichtigste Dokumente ihres Lebenswerkes gelten können. Der Bildband „David Oistrach. Ein Arbeitsporträt“ erschien 1973 auf Grundlage von Fotografien aus etwa einem Jahrzehnt. Musik und musikalisches Erleben standen der Künstlerin besonders nahe. Viele ihrer Aufnahmen zeigen den berühmten Geigenvirtuosen und Dirigenten in Augenblicken der psychischen Vertiefung und Hingabe. Das gesamte Buch war laut Richter als ein „gestischer Bericht über eine Persönlichkeit“ zu verstehen. Nicht nur die Bildfolge, auch sämtliche Details der Buchgestaltung wurden von der Fotografin bestimmt und ließen den Band zum Kunstwerk werden. Die folgende Publikation „Paul Dessau. Aus Gesprächen“ 1974 war ähnlich ambitioniert, doch kam es hier wie auch beim Band zu Oistrach zu heftigen Konflikten, die letztlich darin begründet waren, dass künstlerische Autonomie in der Verlagsproduktion nicht durchsetzbar war. Einige Jahre später, 1980, steuerte Evelyn Richter einen wichtigen Beitrag zu der Publikation des Psychologen Hans Dieter Schmidt „Entwicklungswunder Mensch“ bei. Sie übernahm die gesamte Bildausstattung dieses Buches über frühkindliche Entwicklung und unterzog mit ihren Fotografien die staatlichen Erziehungsmaßnahmen für Kinder in der DDR einer kritischen Wertung. Evelyn Richter kämpfte nicht nur um künstlerische Freiheit als Fotografin. Sie beanspruchte auch Mitmenschlichkeit, Wahrhaftigkeit, offenes Denken in jeglicher Richtung.

Damit stieß sie an, provozierte Widerstand der politischen Instanzen in der DDR und setzte sich oftmals dennoch durch. Zur Meisterung des Alltages blieb weniger Energie übrig. Hinzu kam die Unterversorgung nicht nur mit fotografischem Materialien, sondern generell Mangel und Verfall im ostdeutschen Staat. Evelyn Richter, der Augenmensch, die Kunstfreundin hatte, so hieß es 1992 in einer Laudatio leicht untertrieben, „den Auswirkungen lebensgeschichtlicher Konfrontationen keine Kompensationsstrategie entgegnet“. Sie benötigte ständig Assistenz und Helfende, um die Malaisen der Praxis zu bestehen. Nicht wenige ihrer Unterstützer und Assistenten zog sie in ihren Bann, vermittelte Anregungen, setzte Zeichen für freies Denken und fröhliche Anarchie. Sie, die sich gegen eine eigene Familie entschieden hatte, fand Rückhalt in der Herkunftsfamilie wie auch im Ort ihres Herkommens. Evelyn Richter war eine loyale und diskutierfreudige Kollegin, eine treue Freundin ganzer Familien, regelmäßiger Gast bei Ausstellungseröffnungen an verschiedenen Orten und auch fröhlich Feiernde im Kreise Gleichgesinnter. Sie war und sie blieb auch als ältere Frau eine elegante, feine, freundliche Erscheinung.

Das Werk von Evelyn Richter fand Anerkennung, beginnend 1987 mit einer großen Präsentation auf dem renommierten Fotofestival im französischen Arles, endend mit dem Bernd-und-Hilla-Becher-Preis Düsseldorf 2020.

Und was bleibt? Bei wachsendem Zeitabstand doch weniger das Label „DDR“. Es sind allgemein gültige Bilder menschlicher Schicksalsmomente, von Erfüllung durch Kunst.

Salute, Evelyn! 

Andreas Günther Krase

Geboren 1958, Studium der Kunstwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, dortselbst 1999 Promotion zu einem fotohistorischen Thema. Lehrtätigkeiten an der HGB Leipzig und der FHTW Berlin. In den 1990er Jahren freie Projektarbeit, Mitarbeit im Landesmuseum Berlinische Galerie. 1999 – 2003 Kustos der Hermann-Krone-Sammlung, TU Dresden, 2004 Gastwissenschaftler am Getty Conservation Institute, Los Angeles. Seit 2005 Kustos für Fotografie und Kinematografie an den Technischen Sammlungen Dresden.