Das Porträt – zwischen Loslassen und Ankommen.

Das Porträt – zwischen Loslassen und Ankommen.

Auszüge aus einem Text von Yvonne Most.

Wer sich beim Fotografieren auf das Genre Portrait einlässt, begibt sich auf eine Reise, ist mutig. Lässt vielleicht vertraute Sehgewohnheiten los, um am Ende bei sich selbst anzukommen.

Im zeitgenössischen Porträt steht der Mensch nicht allein im Mittelpunkt: Porträts sind geprägt von und eingebettet in sein Lebensumfeld, er steht in Beziehung. Wie blicken Fotografen heute auf die Welt, auf den Menschen? Was bewegt sie? Wie nutzen sie die Fotografie, um den Betrachterinnen und Betrachtern einen Zugang zu ihrer Sicht auf die Dinge zu gewähren? 

Als Fotografin suche ich nach den Dingen und Menschen, die ihre individuelle Schönheit erst auf den zweiten oder dritten Blick entfalten. Schön und sogenannt nicht schön ist eine Wertung, die wir uns nicht allgemeingültig anmaßen sollten. Ich höre auf die leisen Töne, die viel in sich tragen. Mich interessieren die Ränder von Bildern, das Irritierende in Gesichtern, Details.

Ist es möglich Licht zu trinken? Bewusst und unbewusst führt uns die Fotografie an Orte und zu Menschen, die gesehen und gefühlt werden wollen.

Was interessiert uns als Fotografen am Gegenüber? Mein Gegenüber ist ein Spiegel für Eigenschaften, die ich mag oder nicht, die verarbeitet oder ungelöst erscheinen. Der Prozess des Fotografierens gibt uns die Chance diese zu ergründen und löst Faszination und Abwehr zugleich aus. Warum lassen sich Menschen fotografieren? Vielleicht wollen sie sich später an den Moment erinnern, an die Gefühle, einen Lebensabschnitt, in der Hoffnung diesen einfrieren zu können, unsterblich sein. 

Sind wir bei der heutigen Bilderflut auf der Suche nach dem ehrlichen Blick, dem Wesen der Menschen? Wer schaut heutzutage noch unreflektiert in die Kamera – der Blick bei Selbstportraits ist geschult, es gibt Anleitungen. Was zeichnet ein gutes Portrait aus? In Gesprächen höre ich Antworten wie: „Ein Portrait muss mich berühren.“ Aber wie? Jeden Menschen rühren andere Anhaltspunkte in einem Bild an. Dennoch bin ich mir sicher, dass Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit starke Argumente sind im Gedächtnis zu bleiben. Ist es überhaupt möglich, einen Menschen authentisch abzubilden? In dem Moment der bewussten Ablichtung reagiert man auf die Situation, die Kamera auf das Model, ein magischer Moment entsteht. Bei dem fotografischen Prozess bringen beide Akteure ihre Charaktere, Erwartungen, Hoffnungen mit ein. Beide sind am Entstehungsprozess beteiligt.

Fotografie schafft Erinnerungsräume, in die ich gern einziehe. Für einen selbstbestimmten Zeitraum wird ringsherum alles ausgeblendet. Es gibt diesen magischen Moment, diese Konzentration auf das Wesen des Menschen, welcher sich entfaltet.

Welche Idee habe ich im Vorfeld von einem Menschen? Welchen Zugang ermöglichen beide Seiten? Schaffe ich es die Facetten herauszuarbeiten, sie freizulegen, ohne sie zu entblößen? 

Ob dies gelingen mag, stellt sich bei jeder Sitzung neu. Dankbar und demütig jeder neuen Situation gegenüber zu sein, offen für das Unvorhersehbare. Solang die Neugier und die Zugewandtheit Menschen und all ihren Facetten gegenüber besteht – ist die Fotografie ein wunderbares und offenbarendes Medium der Umwelt und sich selbst näher zu kommen. Zu verstehen und Verständnis schaffen – von Bild zu Bild.

Martin Morgenstern

Martin Morgenstern (*1979) studierte Musikwissenschaften in Weimar und London, arbeitete als Korrespondent und Fotograf u.a. für ddp und dpa und gründete 2007 die Kunstagentur Dresden. Im Verlag der Agentur erschienen Fotobücher und Kataloge u.a. von Stefan Krauth, Frank Höhler, Luc Saalfeld, Jacques Schumacher und Stefanie Minzenmay. 2019 wurde er als ordentliches Mitglied in die Deutsche Gesellschaft für Photographie berufen und ist seit 2020 Vorstandsvorsitzender des Forums für zeitgenössische Fotografie Dresden. 2021 nahm die Deutsche Fotothek einige seiner Werke in das »Archiv der Fotografen« auf.